Wir müssen reden!
Boris Palmer, Oberbürgermeister von Tübingen mit Sinn für die große mediale Inszenierung, erklärt seit seinem Streitgespräch mit AfD-Landeschef Markus Frohnmaier, er habe deren Erzählung widerlegt, Deutschland sei seit 2015 unsicherer geworden. Er beruft sich dabei auf die Polizeistatistik. Das mag griffig klingen – ist aber unvollständig. Palmer jedenfalls dürfte bewusst sein, dass er mit einer solchen Behauptung Störgefühle in weiten Teilen der Gesellschaft hervorruft.
Es grenzt an einen Versuch kollektiven Gaslightings, Menschen ihr tagtägliches Erleben mit Statistiken wegreden zu wollen. Wer Städte wie Mannheim oder Hagen, Gegenden wie Duisburg-Marxloh, die Berliner Sonnenallee oder diverse großstädtische Hauptbahnhöfe besucht, kann sehen, in welche Richtung sich Deutschland verändert hat – aber vor allem: Die Veränderung lässt sich fühlen. Die Atmosphäre von latenter Bedrohlichkeit im öffentlichen Raum, von Verhaltens-Codes, die immer an der Vorstufe von physischer Gewalt kratzen, ist real. Wenn dann die Statistik als Keule dient, um Alltagserfahrungen zu delegitimieren, wird diese Rhetorik zum Teil des Problems.
Nach Palmers Logik müsste schon an Silvester 2015 auf der Kölner Domplatte (und in zahlreichen anderen deutschen Städten) alles in bester Ordnung gewesen sein. Zwar kam es zu so massenhaften Übergriffen von überwiegend als migrantisch identifizierten jungen Männern gegenüber meist deutschen Frauen, dass auch – und zwar bezeichnenderweise zuerst – internationale Medien in großen Aufmachern darüber berichteten. In Köln gingen daraufhin 1.222 Anzeigen ein, 513 davon wegen sexualisierter Gewalt. Bis Ende 2017 ermittelte die Staatsanwaltschaft gegen über 300 Beschuldigte. Am Ende jedoch standen nur 36 Verurteilungen, zwei davon wegen sexueller Nötigung.
Statistisch betrachtet fiel also die Silvesternacht 2015 kriminalistisch nicht aus dem Rahmen. Wohl aber die Realität, denn die Statistik misst nicht, was Menschen meiden, weil sie Situationen vorhersehen und ihnen ausweichen.
Mit dem Gaslighting ist es also so eine Sache – auf der Ebene direkter persönlicher Anwendung ist sie ein hinterhältiges Manöver, mit dem man einen anderen Menschen so sehr verunsichern kann, dass er schließlich an der Intaktheit seiner eigenen Wahrnehmung zweifelt – und im schlimmsten Falle daran verrückt zu werden droht. Auf der Ebene einer ganzen Gesellschaft, eines Staates oder Landes ist der Versuch, die Unsicherheit der Eigenwahrnehmung politisch zu nutzen in etwa so aussichtsreich, wie die Versuche der damaligen SED, den DDR-Bürgern mit Feierstunden zur angeblichen Übererfüllung der 5-Jahres-Pläne eine alternative Wirklichkeit vorzugaukeln. Und woran der real existierende Sozialismus scheiterte, das wird mittlerweile auch dem angeblich „besten Deutschland aller Zeiten“ zum Verhängnis: Ein schmerzhaftes Glaubwürdigkeitsproblem im politischen Diskurs.
Boris Palmer weiß, dass der Justizapparat laufend und nicht ohne Stolz neue Überlastungsrekorde meldet. Knapp 1 Million unerledigte Strafverfahren sind es derzeit, und daran, dass die deutsche Justiz im Vergleich mit anderen EU-Ländern personell nicht gut genug aufgestellt wäre, liegt dieser Overkill sicher nicht. Ein gut eingespieltes System von ständigen Klagen über angeblichen Personalmangel und gleichzeitig immer neuer, immer noch absurderer Strafvorschriften – man denke an einen angedachten „Catcalling“-Paragraphen, der aktuell auf der Kopf-Schüttel-Skala mühelos Platz 1 belegen dürfte –, diese Gemengelage ist es, die jede Erfüllung staatlicher Kernaufgaben, wie zum Beispiel die Verfolgung echter Straftaten, dysfunktional werden lässt.
Jedem halbwegs vernünftigen Menschen ist klar, welche Konsequenzen diese multiple Realitätsverweigerung auf die politische Auseinandersetzung hat: Mit Taschenspielertricks in Talk-Runden und Verweisen auf Statistiken, die nichts aussagen, wird sich die AfD eben gerade nicht stellen lassen. Beschwichtigungen, wonach alles nur ein Wahrnehmungsproblem eines immerhin sehr großen Teils der Gesellschaft sei, sind nur noch mehr ein Beweis für die passive Aggression einer abgehobenen Polit-Elite gegenüber normalen Menschen.
Die Silvesternacht 2015 wird in wenigen Monaten zehn Jahre zurückliegen und dieser traurige Jahrestag wird voraussichtlich nicht nennenswert medial erwähnt werden. Ebensowenig wie der 6 Wochen früher liegende Jahrestag der Terroranschläge rund um das Bataclan in Paris, bei denen im November 2015 innerhalb weniger Stunden 130 Menschen ermordet wurden. Man muss sich die schiere Zahl vergegenwärtigen: 130 Menschen, die in einer einzigen Nacht durch die Waffen von Terroristen ihr Leben verloren, dazu 683 teils schwer Verletzte.
Und heute? Blicken wir auf eine erschreckend lange Reihe von islamistisch motivierten Anschlägen mit einer noch erschreckenderen Zahl von Toten, auch in Deutschland. In deutschen Innenstädten liefen in jüngerer Zeit tausendköpfige Züge mit Plakaten wie „Kalifat ist die Lösung“ herum. Dass die Polizei betont, die Verläufe seien friedlich gewesen, ändert nichts: Wer den Gottesstaat fordert, will die freiheitliche Gesellschaft abschaffen – und normalisiert diese Zwangsvision Schritt für Schritt im öffentlichen Raum.
Das Dilemma einer jeden Debatte, die sich mit der Flüchtlings- und Asylthematik in Deutschland befasst, ist offenkundig: Weder die AfD, noch Politiker außerhalb der AfD haben bislang (immerhin 10 Jahre nach dem fatalen „Wir schaffen das“-Slogan) irgendwelche zukunftsweisenden Vorschläge unterbreitet, wie Deutsche sowohl ihr absolut legitimes, subjektives Sicherheitsgefühl, als auch ihre reale innere Sicherheit vor islamistischen Anschlägen zurückgewinnen können. Und zwar egal, ob es um die Abwehr von Einzeltätern geht oder von organisierten Attacken mit Dutzenden Toten und Verletzten. Ob es um das Bekenntnis zu einer freiheitlichen Gesellschaft in der Tradition der Aufklärung geht oder schlichtweg um den Respekt vor den Argumenten einer Meinung, die nicht die eigene ist.
Selbsternannte „progressive“ Kräfte in Deutschland und ganz Europa tun sich seit Jahrzehnten so schwer mit einer Reform des Asylrechts hin zu einem sinnvollen Einwanderungsrecht, weil der Diskurs längst emotional vergiftet ist. Kein führender Akteur der Grünen oder der SED-Nachfolgepartei der „Linken“ würde privat ernsthaft bestreiten, dass die realen Zustände nach 10 Jahren ungeregelter Migration in Deutschland tatsächlich dem subjektiven Empfinden großer Teile der Bevölkerung entsprechen. Doch diesem politischen Führungspersonal geht es vor allem um eines: den Erhalt eines ethisch zutiefst kaputten Systems von Machterhalt via Deutungshoheit.
Es ist ja auch zu bequem: Wer würde etwa freiwillig behaupten, „gut sein“ sei nicht sein Ding? Auf dieser Strategie der emotionalen Erpressung beruht das simple rhetorische System der linken Diskursverdrehung, indem jeder mit jedem beliebigen Label des Verachtenswerten bedacht wird, sobald er dem einträglichen Geschäft der linken Empörungsökonomie gefährlich werden könnte.
Doch das System hat sich totgelaufen. Was wir brauchen, um wieder eine Zukunft zu haben, als Gesellschaft, als Individuen, ist der unerschütterliche Glaube ans Zuhören, an den Diskurs. Ebenso wie die unerschütterliche Bereitschaft zur Selbstreflexion. Und zum Eingeständnis eigener Fehlentscheidungen, auch wenn sie uns für einige gehörige Momente aus unserer Komfortzone reißen werden.
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