Einschüchterung und Hausdurchsuchung bei Publizisten – Was Norbert Bolz und Julian Reichelt genau vorgeworfen wird
Bei Publizist Norbert Bolz wurde nach einem X-Post eine Hausdurchsuchung angedroht und faktisch durch Einsichtnahme in seine digitalen Geräte ersetzt. Anlass: Er kommentierte im Januar 2024 einen taz-Teaser („Deutschland erwacht“) mit den Worten „Gute Übersetzung von ‘woke’: Deutschland erwache.“ – ein Slogan, den Verfassungsschutz und Rechtsprechung der NSDAP/SA-Parole „Deutschland erwache!“ zuordnen. Ermittelt wird wegen Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen (§ 86a StGB). Laut Staatsanwaltschaft wurde die Durchsuchung abgewendet, weil Bolz kooperierte, der Anfangsverdacht bestehe jedoch fort. (Tagesspiegel)
Die Ausnahmen für die genannte Regelung für Kunst, Presse und Wissenschaft werden zunehmend restriktiv angewandt. In großen Teilen der Bevölkerung entsteht der Eindruck, dass hierdurch einseitig insbesondere Stellungnahmen mit konservativer Richtung unterdrückt werden sollen. LTO verweist auf Linie der Gerichte: Selbst eine offenkundig sarkastische Verwendung kann strafbar sein; Ermittlungen und Hausdurchsuchungen seien grundsätzlich gedeckt, wenngleich im Einzelfall Verhältnismäßigkeit zu prüfen ist. (LTO)
Der Fall löste parteiübergreifend Widerspruch aus. Wolfgang Kubicki (FDP) nannte die Aktion „sprachlos machend“, Ricarda Lang (Grüne) sprach von einer „absurden“ Razzia und warnte vor einer überdehnten Auslegung des Meinungsstrafrechts. Auch ZDFheute thematisiert die Zweifel an der Verhältnismäßigkeit und erläutert, dass hier ein Anfangsverdacht zu einer Maßnahme mit massivem Eingriff in die Privatsphäre führte. (Tagesspiegel)
Parallel dazu läuft ein neues Ermittlungsverfahren gegen Julian Reichelt vom Online-Portal Nius (Volksverhetzungs-Verdacht, § 130 StGB):
Die Staatsanwaltschaft Berlin bestätigt Ermittlungen wegen eines X-Posts vom 1. April. Laut Stuttgarter Zeitung (epd) schrieb Reichelt, Deutschland werde „in den nächsten Jahren erst die Unterwanderung und dann die Übernahme unserer Polizei“ durch Beamte mit Migrationshintergrund erleben; „in zehn Jahren ist die Polizei in unseren Städten arabisch dominiert. Viel Spaß!“. Reichelt verwies zur Rechtfertigung auf eine ZDF-Doku zu Clan-Kriminalität. WELT berichtete zuerst über das Verfahren. (stuttgarter-zeitung.de)
Für Reichelts These „Clan-Unterwanderung der Polizei“ existieren in der Tat Teilbefunde:
- VG Berlin 2021 (5 L 78/21): Ein Bewerber durfte vorläufig nicht eingestellt werden, wegen Nähe zu kriminalitätsbelasteten Milieus. (Berlin.de)
- Polizeigewerkschaften und Berichte thematisieren seit Jahren Clan-Druck und entsprechende Risiken. (regionalHeute.de)
- ZDFzeit/Reportagen beleuchten organisierte Kriminalität/Clans und Kontaktpunkte zum Staat. (YouTube)
Warum viele von „Einschüchterung“ sprechen:
Im Fall Bolz trifft eine symbolisch geladene Strafnorm (§ 86a) auf eine offenkundig satirische Verwendung. Die Schwelle für Strafbarkeit ist niedrig, der Eingriff abschreckend – und führt aufgrund seiner Auslegungsbedürftigkeit in der Praxis zu Unterdrückung von Meinungsäußerungen, die den Bereich des Unsagbaren immer größer werden lässt. Kritiker warnen, dass staatsanwaltliche Maßnahmen (Durchsuchung, Ermittlungen) bei politisch brisanten Meinungsäußerungen letztlich totalitäre Züge annehmen würde.
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